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| - Als er seine Augen aufschlug, und schlaftrunken durch sein Fenster blickte, offenbarte sich ihm der Blick auf von der Dunkelheit noch schwach umworbene Häuser in der Ferne und auf den Garten, der sich vor seinem Zimmer erstreckte. Der Garten war die Lieblingsbeschäftigung seiner Mutter, die beinahe jeden Tag damit verbrachte, Unkraut zu zupfen, Gemüse anzubauen, Laub zu harken oder den Rasen zu mähen. Der Rasen bedurfte einer Mähung freilich wenig, weiß glitzerten die gefrorenen Tropfen auf den kurzen Halmen. Der Junge wendete seinen Blick von der durch die eisige Kälte ihrer Vitalität beraubten Landschaft, und schickte sich an, duschen zu gehen. Im Badezimmer stehend blickte er in den Spiegel. Ein freundliches, ein wenig breites und pummelig wirkendes Gesicht blickte ihn aus braunen Augen zurück an. Seine Haare, normalerweise eine kräftige, drahtige Wolle, hing vom Schlafe plattgedrückt herunter. Er hasste es, wenn seine Haare so aussahen, aber hier im Badezimmer sah ihn ja niemand. Er warf einen letzten Blick auf seine dunklen Augenringe, grinste sein Spiegelbild an und sagte leise in den leeren Raum:“Weißt du was? Du siehst richtig fertig aus!“ Lachend stieg er in die Dusche, wusch sich und aß, nachdem er sich abgetrocknet und geföhnt hatte, eine Schüssel voll übersüßter Cerealien zum Frühstück. Nachdem er auf dem Küchentisch einen Zettel seiner Mutter gefunden hatte, der ihm sagte, dass seine Eltern heute den ganzen Tag weg seien, überlegte er voll Freude, ob er sich sofort an den Computer setzen sollte. Wofür soll ein Tag sturmfrei denn sonst gut sein, wenn man ihn nicht dafür nutzt, genau das zu tun, worauf man Lust hat? Nach einiger Überlegung allerdings entschied er sich, den Tag mit einem kleinen Spaziergang an den See zu beginnen. Als Angler hatte er sowieso ein Interesse an dem kleinen See, auch wenn er, wie heute, zugefroren war. Das Gehen an dem Gewässer beruhigte und erfrischte ihn aber auch und er konnte besser nachdenken, wenn er um das Wasser ging. Also zog er sich warm an und trat aus der Tür hinaus. Sofort stach ihn die Kälte mit eisig beißenden Nadeln in die Wangen, doch er ignorierte das. Mit vor Kälte schon etwas steifen Fingern drehte er den Schlüssel, um die Tür abzuschließen, und machte sich auf den Weg. Seine Schritte knirschten, als er über das mit Sand und Salz bestreute Eis lief, das die Gehwege bedeckte. Auf den Feldwegen, die rings um den See herum verliefen, ließ es sich besser gehen. Schnell schritt er zu seinem Lieblingsplatz, wo eine kleine Bucht war, und wo das Ufer steil abfiel und auch unter Wasser eine gerade Kante verlief, sodass die Tiefe dort direkt vier Meter oder mehr betrug. Früher hatte seine Mutter ihn dort nicht spielen lassen, und ihm immer, wenn er mit Freunden loszog, das Versprechen abgenommen, nicht dorthin zu gehen. Jetzt freilich war das nicht mehr so. Der See, an dem er schon sein ganzes Leben verbracht hatte hielt keine Gefahren für ihn bereit. Dachte er. Als er die Bucht erreichte, wo sich über dem Wasser eine dicke Eisschicht gebildet hatte, sah er es. Er sah die Erdklumpen, die wohl von Kindern geschmissen worden waren, in der Hoffnung, das Eis brechen zu können. Er sah auch, dass sie wohl Erfolg gehabt haben mussten, denn in der dicken Schicht Eises klaffte ein großes Loch. Er runzelte die Stirn. Wie sollten sie das mit, Erdklumpen geschafft haben? Zwar waren die Brocken hart gefroren, doch überall rings um das Loch lagen die zerbrochenen Überreste der Wurfgeschosse. Eine Sache verwirrte ihn aber noch mehr. Die großen Eisstücke, die das Loch bedeckt hatten, schwammen nicht im kalten Wasser, das schwarz an den Rändern des Loches leckte, sondern lagen verstreut auf der Eisdecke um das Loch herum. Etwas hatte die Eisdecke durchschlagen, ja. Aber nicht von außen. Alles sah ganz danach aus, als hätte etwas großes und kräftiges die Eisschicht von unterhalb durchbrochen. Stirnrunzeln blickte er auf das Loch.Wie war das möglich? Es konnte sich ja nichts unter dem Eis befinden. War es ein Fisch gewesen? Er bezweifelte, dass ein Fisch solche Kraft aufbringen könnte, um die Bruchstücke mehrere Meter weit aus dem Wasser zu schlagen, was angesichts ihrer Position auf dem Eis geschehen war. Er sollte bald erfahren, dass es kein Fisch gewesen war, denn während er nachdachte schoss plötzlich eine Hand aus dem Wasser hervor und krallte sich an den Rand. Da dies nur wenige Meter vor seiner Nasenspitze geschah, sah er, dass diese Hand unmöglich zu einem Lebenden gehören konnte. Die Farbe der Hand war ein fast reines Weiß, während die Haut unter den Fingernägeln von einem beinahe leuchtendem Rot war. Während das Wesen sich mit dieser einen Hand aus dem Loch hervorzog, traten die Sehnen an den dürren Fingern hervor, und kleine, verfaulte Hautfetzen lösten sich, und trieben auf der Wasseroberfläche. Das erste, was er außer der Hand von dem Wesen zu sehen bekam, waren die langen Haare, die seinen Kopf bedeckten. In der langen Zeit, die die Leiche schon unter Wasser verweste, hatten sie ihre Farbe verloren und hingen in nassen Strähnen hinab. Die Farbe der Haut am Kopf glich der der Hand. Der Knochen der Nase schimmerte gräulich durch die verfaulte Haut, darüber blickten zwei verquollene Augen aus den Höhlen. Die Pupillen hatten keine Farbe, seelenlos starrten zwei graue Flecken aus dieser Ruine eines Gesichtes. Die Leiche konnte sich nur mit einer Hand am Rand hochziehen, der linke Arm endete in einem Stumpf, an dem lange Hautfetzen baumelten. Diese Kraft aber reichte, das Wesen zog sich mit einem Ruck nach oben und landete mit einem unbeschreiblich widerlichem Geräusch auf dem Eis. Dort liegend stöhnte es ihn mit seinem fleischlosem Mund an. Auch die Farbe der Lippen war dem Verfall gewichen. Doch als die Leiche sich auf dem Eis drehte, wie die groteske Karikatur einer Robbe, sah er, dass vom Geschlecht des ehemaligen Mannes nur ein verfaulender Zipfel geblieben war, und da der Wind gedreht hatte, schlug ihm nun neben dem flehentlichen Stöhnen des toten Menschen nun auch der Gestank entgegen. Er roch den Faulschlamm, den Geruch von Verwesung und er roch Urin. Er nässte sich ein, als sich das Wesen mit seiner verbliebenen Hand über das Eis robbte und mit seinen in verfaulendem Zahnfleisch sitzenden Zähnen klackte. Während er steif und dastand und sich wie gelähmt nicht rühren konnte, engte sich sein Sichtfeld ein, bis er nur noch dieses Ding sehen konnte, das sich unentwegt auf ihn zuschob. Dann plötzlich regte sich in seinem Kopf ein Gedanke. Renn, du Idiot, renn! Sonst wirst du nie wieder rennen! So drehte er sich um und rannte, rannte bis er nicht mehr konnte. Auf den vereisten Wegen vor seinem Haus rutschte er trotz des Sandes auf dem Eis aus und zerriss sich die Hose, doch er spürte den Schmerz kaum, so taub waren seine Beine. In seinem Zimmer warf er sich mit Kleidung und Stiefeln auf sein Bett und weinte in sein Kissen. Dort blieb er den Rest des Tages, dann zog er sich aus und legte sich in sein Bett. Während er in der Dunkelheit lag, wünschte er sich, er hätte Licht angelassen, gleichzeitig fürchtete er aber, wenn er das Licht anmachen würde, ein Gesicht am Fenster zu sehen. Ein Gesicht, aus dem sich das Fleisch schälte. In der Nacht wurde er von Alpträumen geplagt. In einem davon ging er wieder an den See, diesmal aber im Hochsommer. Während er auf die Wasseroberfläche blickte, stieg plötzlich eine große Luftblase vom Grund herauf, als hätte sich vom Grund etwas großes gelöst. Plötzlich vereiste die Wasseroberfläche, und kalte Hände griffen nach seinem Bein, zogen ihn in die eisigen Fluten hinab, hinab zu den Küssen fleischloser Münder, hinab zu den Toten, aber die Toten lebten hier unten, und sie warteten. Am Morgen wurde er von den kalten, zögerlich über den Horizont kriechenden Strahlen der Sonne geweckt. An die Decke starrend erinnerte er sich von Grauen erfüllt an den gestrigen Tag, doch als er seine Mutter in der Küche rumoren hörte, rollte er sich aus dem Bett und wankte ins Bad, fest entschlossen, diese Erinnerung zu verdrängen und, wenn möglich, zu vergessen. Immer, wenn er sich in den folgenden Jahren an den See und an diesen kalten Wintertag zurückerinnerte, schalt er sich selbst. Das ist nie passiert, was spinnst du dir für ein Zeug zusammen? Das hast du geträumt! An den See ging er nie wieder, wenn es sich vermeiden ließ. Und irgendwann vergaß er alles. Es war besser so.
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