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| - Die kleine Stadt war vollgestopft bis zum Rand. [...] Jedenfalls kam der Zuzug von [... Kriegsflüchtlingen aus Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland, Evakuierten aus den rheinischen Großstädten, aus dem Heeresdienst entlassenen Ärzte, die im Diakonissenkrankenhaus unterkamen,] der Atmosphäre von Hall kräftig zustatten: daraus war jetzt [...] eine neue, urbanere Stadt geworden, und in ihr kamen Dinge zustande, die es nie zuvor in Hall gegeben hatte, auch nicht hätte geben können.
Eine Volkshochschule wurde gegründet und trotz des Vortragsangebot der [neugegründeten Akademie für Lehrer*innenfortbildung] Comburg stark besucht; bald war sie überdies ein geselliges Zentrum. [...]
Der durch den Zuzug von draußen verbreiterte Kreis von Interessenten machte ein anderes Unternehmen möglich. Zwei jüngere Männer hatten Beziehungen zu Filmstudios und Verleihanstalten: der eine, aus Berlin gekommen, arbeitete in einem Haller Industrieunternehmen, der andere, ein Haller, hatte in München Theaterwissenschaft studiert, ehe er ins Forstfach übergegangen war. Sie hatten sich einen französischen Film aus den dreißigern Jahren zu beschaffen gewußt, »La belle et la bête«, den sie an einem Sonntagvormittag vor geladenen Gästen laufen ließen. Die Wirkung war so stark, daß der Vorschlag der Initiatoren, eine Organisation zu gründen, die fortan regelmäßig derart rare Filme nach Hall bringen könne, auf der Stelle verwirklicht wurde. Der neue Filmklub florierte in kurzem, und ehe man in Stuttgart oder anderswo im Umkreis »Les visiteurs du soir«, »Le journal d'un tricheur«, »Le bon Dieu n'a pas des vacances«, »Les jeux sont faits« oder »Sunset Boulevard« und viele andere Kostbarkeiten sehen konnte, liefen sie vor unserem Klub in Hall. Er erweiterte sich mehr und mehr, und seine Vorführungen verhalfen uns im Laufe der Jahre zu einem Überblick über die Avantgarde des Films in Frankreich, Italien, Hollywood im vorausgehenden Jahrzehnt bis an die Gegenwart heran. Der Film wurde drum für uns zu mehr als einem Ersatz für das Theater, das es noch nicht gab oder, nach seiner Wiedereröffnung in Stuttgart, schwer zu erreichen war. Denn nicht nur die Faszination im Lichtspielhaus wurde mit einer neuen Intensität erfahren, sondern auch die Reflexion richtete sich jetzt nachdrücklicher auf das Spezifische dieser Kunstgattung.
Das alles bahnte sich noch unter den dürftigen Umständen der Notzeit an und hatte in Stuttgart, wohl auch in anderen Großstädten, damals nicht seinesgleichen: nicht nur eine Universitätsstadt wie Tübingen, sondern auch die wenig zerstörten Landstädte, hatten jetzt, wenn nur einige Anreger am Ort lebten, ihre Stunde, beileibe keine große, aber eine höchst lebendige Zeit.
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