abstract
| - Es ist wie so oft sehr heiß, die Sonne scheint vom Himmel, scheint einem die Kraft aus dem Leibe brennen zu wollen. Das aber ist nichts Neues für die versammelte Menschenmenge, die sich hier vor der niedrigen Lehmmauer versammelt haben. Auch ich bin Teil dieser Menge, versuche, einen Blick auf das zu erhaschen, was die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich drängle mich durch die Menschen, was nicht unbedingt schön für die Nase ist, denn wenn die Gemüter sich erhitzen, so bringt es zweifelsohne die Körpersäfte in Wallung. Es stinkt nach Schweiß, nach tierischen Ausscheidungen, doch es riecht auch nach Essen, nach Pilaw und frischem Fladenbrot. Diese Gerüche ziehen aus den nahen Häusern, die anderen aber kommen von den Menschen, die sich vor der Stadt versammelt haben. Endlich bin ich fast vorne, ich ahne, was sich dort abspielt, aber ich muss es sehen. Ich schmiege mich an die warme Flanke eines Esels, drängle mich an dem alten Graubart vorbei, der ihn hält, und habe endlich freie Sicht. Also stimmte es, was man erzählte. Die in ein weißes Tuch gehüllte Gestalt, die in diesem Moment auf eine bereits ausgehobene Grube zugezogen wird, beweist es. Die Menge wird unruhig, und sie wächst stetig. Immer mehr Menschen strömen aus den Häusern, um die Urteilsvollstreckung zu sehen. Und vielleicht, um ein Teil ihrer zu sein. Der Mensch in dem Tuch ist eine Frau, ihren Namen kenne ich nicht. Auch ihr Gesicht kann ich nicht sehen, es ist mit dem schweren, weißen Stoff verdeckt. Allerdings wurde mir erzählt, sie hätte an einem Stand auf dem Markt Datteln verkauft. Sie wurde des Ehebruchs angeklagt und für schuldig erklärt. Sechs Männer haben ihre Schuld bezeugt. Vier Männer sind notwendig. Das Urteil wurde gesprochen. Die Frau war verheiratet, der Mann, mit dem sie Verkehr hatte, nicht. Das Urteil für ihn, das sich auf fünfzig Peitschenhiebe belief, wurde bereits vollstreckt, nicht unter den Augen der Öffentlichkeit. Diese Frau allerdings wird vor den Augen all dieser Leute sterben. Und auch ich werde dabei sein. Noch könnte ich mich zurückziehen, noch könnte ich nach Hause gehen, aber das werde ich nicht tun. Ich will es sehen. Die Männer, die etwa zwölf Meter vor der sich langsam vorwärts drängelnden Menge ihre Arbeit verrichten, beginnen die Frau einzugraben. Bis zur Brust, so schreibt es das Gesetz vor. Männer werden bis zum Bauch eingegraben. So können sie zwar leichter fliehen, allerdings gibt es auch mehr Körperfläche, die von den erbarmungslosen Steinwürfen getroffen werden kann. Zudem ist es fast unmöglich zu fliehen, zum einen, weil das Tuch den Fliehenden in seiner Bewegungsfreiheit stark einschränkt, zum anderen, weil die Erde, in der das Opfer eingegraben wird, von den Männern eifrig festgestampft wird. Die Menge wird langsam ungeduldig, und es geht ein fast spürbarer Ruck durch sie, als die Männer von ihrer Arbeit zurücktreten. Ein Mullah beginnt mit hoher Stimme für die Verurteilte zu beten. Die Menge rührt sich nicht, doch unter dem Stück Stoff, das aus dem Boden ragt, beginnt sich die Frau hastig zu regen. Allerdings kann sie durch ihre Eingeschränktheit nur ihren Kopf umherwackeln lassen. Der Geistliche beendet sein Gebet. Alles ist still. Niemand scheint zu atmen. Da zerreißt ein schluchzender, schriller Schrei die Stille, gedämpft durch das Tuch. Ein Schrei voller Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ich muss schlucken. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich noch hier sein möchte. Doch dann wird dem tranceähnlichen Zustand, in dem wir uns alle zu befinden scheinen, jäh ein Ende gesetzt. Ein junger Mann, einige Meter weiter rechts von mir, bückt sich, hebt einen Stein auf und schleudert ihn mit voller Kraft. Er verfehlt, doch für die Menge ist es ein Startsignal. Ich erlebe die nächsten Minuten wie im Rausch. Das Brüllen und die Energie stecken auch mich unsicheren Zweifler an. Es ist vergessen, dass dort unter dem Tuch ein lebendiger Mensch steckt. Es zählt nur noch, einen Stein zu finde, der nicht zu groß und nicht zu klein ist, und ihn mit möglichst großer Kraft zu werfen und zu treffen. Jeder Treffer, jeder neue Aufschlag auf dem nicht mehr überall weißen Tuch ist Befriedigung, gibt Anlass zu neuem Gebrüll, aus dem zu gleichen Teilen Begeisterung wie Blutdurst sprechen. Die Frau bewegt sich schon lange nicht mehr, aber ich werfe immer noch Steine, zu schön ist das Geräusch des Aufpralls, zu köstlich, wenn der Kopf, getroffen von einem besonders harten Wurf, ruckartig nach hinten fliegt und dann langsam wieder über die Schulter nach vorne rollt. Langsam flaut die Stimmung ab, langsam komme ich wieder zur Besinnung. Manche sehen sich ungläubig um, schütteln sich. Die vorderste Reihe hat sich während des Werfens nach vorne verschoben, was viele gar nicht mitbekommen haben und sich jetzt verwundert umschauen. Auch mir ist ein wenig übel. Noch nie hatte ich die Erfahrung gemacht, mit jeder Faser meines Körpers Teil einer Gruppe zu sein, die ein Ziel verfolgt. Noch nie hatte ich das Gefühl erlebt, mich so sehr selbst aufzugeben, um Teil von etwas zu sein. Zusammen als eine Gruppe von Menschen hatten wir die Menschlichkeit weit hinter uns gelassen. Ich bedaure nicht, was ich getan habe, es war nicht Unrecht und nicht falsch. Vielmehr vermisse ich schon jetzt das berauschende Gefühl. Es kommt mir fast so vor, als nähme die Intensität der Farben ab, als sei die Welt weniger real als vorhin. Einige Tage später gehe ich wieder über den Schauplatz der Steinigung. Immer noch kann man an dem von vielen Füßen aufgewühlten Boden erkennen, wo wir standen. Ich gehe zu dem Fleck, wo unser Ziel eingegraben war. Der Leichnam wurde inzwischen bestattet, die Grube wieder zugeschüttet. Ich habe einen kurzen Blick auf die Stoffrolle erhaschen könne. Sie war nicht mehr weiß. Zwei Drittel waren von Erde beschmutzt, das obere Drittel mit Blut verkrustet und von Fliegen umschwirrt. Überall hier liegen Steine herum, und ich frage mich, welche davon wohl meine sind. Es sind so viele! Mehr als hundert. Ich scharre mit meinen bloßen Füßen auf dem staubigen Boden umher, da bemerkte ich das kleine Ding. Ich beuge mich hinunter, nehme es in die Hand und betrachte es eingehend. Klein, gelblich verfärbt, mit Blut an der Wurzel. Ein Zahn, ausgeschlagen durch die Wucht eines Wurfes. Ich nehme ihn mit. Als Andenken.
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