abstract
| - Alles hatte nahezu harmlos angefangen. Fast wäre es Agok gar nicht aufgefallen, dass die "Erwachsenen" immer längere Zeit schlafend zu verbringen schienen, und wenn sie denn wachten, so musste man ihnen manches zwei- oder dreimal sagen, bevor sie darauf reagierten. Das wiederum war nichts Besonderes, gehörte es doch zu Agoks Ausbildung, dass ihre Lehrer mitunter so taten, als hätten sie sie nicht wahrgenommen. Meist geschah dies, um sie auf einen Fehler hinzuweisen, den sie gemacht hatte, ohne sie direkt zu tadeln. Doch war sie sich in letzter Zeit keinerlei Fehler bewusst geworden, und es hatte immer mehr verstohlene Entschuldigungen von seiten der anderen gegeben... Überhaupt schienen die Erwachsenen sie zunehmend als ebenbürtig zu behandeln, wenn man von ihrer zeitweiligen Geistesabwesenheit einmal absah. Aber Agok fühlte sich noch nicht bereit! Es waren doch noch fast drei Jahre bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag! Ohnehin war dies für Agok eine Zeit unheimlicher Gefühlsanwandlungen. Ihr Mentor, Herrscher über ihre Heimat, der ihr wie ein liebender Vater gewesen war, seit sie vor über sechs Jahren nach Ter-A-took gekommen war, um ihre Ausbildung zu beginnen, schien nicht bemerken zu wollen, dass Agok ihn aufrichtig liebte... nicht wie einen Vater, sondern wie einen Mann! Zu gern hätte sie sich augenblicklich in seine starken Arme gekuschelt und sich von seinen zärtlichen Küssen verwöhnen lassen... Zumindest nahm sie an, dass seine Küsse nichts anderes als zärtlich sein konnten. Fast jede Nacht lag sie wach und erging sich in lustvollen Phantasien der Liebe, doch blieb ihre Sehnsucht unbeantwortet. Schlimmer noch, wirkte auch der Mann ihrer Träume mitunter abwesend, ja manchmal gar wie erstarrt... Es war ein regnerischer Frühlingstag im Mond des Falken, als Agok einer ihrer Phantasien als Tagtraum erlegen war, und sich plötzlich in den Armen ihres Geliebten (so betrachtete sie ihn jedenfalls, auch wenn das trotz all ihrer Sehnsüchte nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien) wiederfand, dessen offensichtlich besorgtes Gesicht über sie gebeugt war, als er sie gerade auf ihr Bett legte. Noch ehe sie richtig zu sich kommen konnte, waren ihr schon die Worte entschlüpft, die sie hätte schon viel früher sagen sollen: "Ich liebe Dich". Der Hauch eines Lächelns umspielte die Züge des Mannes, und zu ihrer größten Überraschung antwortete er ihr: "Ich weiß". Und da geschah es, was sie sich so lange gewünscht hatte: er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Lippen, sanft und liebevoll, noch viel zärtlicher, als sie sich hätte vorzustellen vermocht, während seine Hände ihren Leib liebkosten, so dass sie in einem Sturm der Lust zu vergehen drohte... Als Agok wieder zu Sinnen kam, hatte Barn-taak ihre Kammer bereits verlassen, und sie stellte fest, dass ihre eigene Hand es war, die ihre empfindsamste Stelle in liebevoller Berührung umschmeichelte. War etwa alles nur ein Traum gewesen? Oder besser gefragt: wieviel von alledem war Traum, und was war Wirklichkeit gewesen? Doch wurden diese Überlegungen unterbrochen von gedämpften Stimmen, die vor ihrer Kammer zu hören waren. Der besorgte Unterton war nicht zu überhören, auch wenn sich die einzelnen Worte nicht unterscheiden ließen. Neugierig geworden, stand Agok leise auf, und schlich sich, ihrer Nacktheit nicht achtend, zur Tür ihrer Kammer und legte ihr Ohr an das Türblatt, das kunstvoll aus Ter-briik gefügt war. Zwar immer noch gedämpft, konnte sie nun einzelne Worte ausmachen, und je mehr sie sich konzentrierte, umso mehr fügten sich diese zu ganzen Sätzen zusammen. Was sie hörte, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Von "Zeitpest" war da die Rede, und dass die "Zeitstarre" nun sogar die Taadrai erfasst habe. Damit war sie gemeint. Sie riss die Tür auf und adressierte die beiden Männer mit ihrer entrüsteten Frage: "Was hat irgendeine Zeitpest mit mir zu tun?" Einen Moment lang hätte man fast meinen können, die Zeitstarre hätte nun die Angesprochenen erfasst, doch nach einem Augenblick des erschrockenen Entsetzens löste sich der ältere der beiden, Tor-tenak, der Agoks zweiter Mentor war, aus der Erstarrung und betrachtete die Taadrai mit dem Anflug eines amüsierten Lächelns, wobei er sie von oben bis unten musterte. Offenbar schien ihm zu gefallen, was er sah, und nachdem er sich endlich vom Anblick ihres verführerischen Körpers losreißen konnte, legte er dem Mädchen eine Hand vertraulich auf die Schulter und sagte: "Es wäre längst Zeit gewesen, dass sich Barn-taak Deiner angenommen hätte, wie es einer jungen Frau gebührt - er scheint es endlich eingesehen zu haben. Was nun die Zeitpest angeht, meine Liebste, so hatten wir gehofft, Dich nicht damit belasten zu müssen. Doch es lässt sich nicht länger vermeiden. Komm mit zu Barn-taak, dort werden wir alles besprechen." Agok zog kurz in Betracht, sich zunächst anzukleiden, entschied sich dann aber dagegen. Der Anblick ihres Körpers war den Bewohnern der Zitadelle hinlänglich vertraut, so dass sie daraus kein Geheimnis zu machen brauchte. Außerdem hegte sie die stille Hoffnung, ihre Blöße könnte Barn-taak zu weiteren Liebesbezeugungen anstacheln, wenn sie ihm so gegenübertrat. Und letztlich bewies sie ihm damit auch, dass sie ihm rückhaltlos vertraute. Sie warf noch einen letzten Blick in ihre Kammer, und aus einem Impuls heraus, den sie nicht hätte erklären können, griff sie nach ihrem langen Bogen und dem dazugehörigen Köcher, der mit Pfeilen bestückt war, die sie selbst hergestellt hatte. Die kleine Prozession, deren dritter Angehöriger, der stellvertretende Festungskommandant Tamyr-basilik, seine Augen nicht von Agok losreißen konnte (was sie zu seinem Leidwesen geflissentlich ignorierte), durchquerte eiligen Schrittes einige weitläufige Korridore der riesenhaften Festungsanlage der Biraka-A-natook. Schließlich langten sie in der Haupthalle an, die durch die imposante Fenstergalerie großzügig mit - wenn auch aufgrund des trüben Wetters gedämpftem - Licht durchdrungen war. Plötzlich überkam Agok der Wunsch, es möge strahlender Sonnenschein durch die Große Halle fluten. Und tatsächlich brach plötzlich Aros Scheibe durch den Wolkenschleier, und goldenes Licht tauchte den weißen Granit der Halle in funkelndes Glühen. Wiewohl sich Agok dessen bewusst war, dass nicht ihr Wunsch den plötzlichen Sonnenschein ausgelöst hatte, konnte sie sich des Gefühls eines gewissen Zusammenhangs nicht erwehren. Als ob ihr Wunsch das Ereignis vorausgeahnt hätte... Und da erschien auch schon ihr Angebeteter, und im Unterschied zu dem jüngeren ihrer beiden Begleiter, waren ihr Barn-taaks Blicke, die dieser anerkennend auf ihrer sonnenbestrahlten, wohlgeformten Figur ruhen ließ, keineswegs gleichgültig. Im Gegenteil, sie überspülten sie mit einer Woge wohligen Verlangens. Ihr Geliebter erkannte wohl, was sie fühlte, und mit bedächtigen Schritten und voller Bewunderung näherte er sich ihr, hob seine Hände und umfing zärtlich ihre Brüste, liebkoste ihre zarten Knospen, und seine Lippen suchten die ihren, um sich in einem innigen Kuss zu vereinen, während sie die Schwellung seiner Lust an ihrem Schenkel spürte... Tor-tenak und Tamyr-basilik schritten, ins Gepräch vertieft, an der Fenstergalerie auf und ab, während sie die Liebenden ihrem Rausch überließen. Im derzeitigen Gemütszustand der Taadrai wäre es wohl zwecklos gewesen, ein ernsthaftes Gespräch anfangen zu wollen, und Tor-tenak bewunderte einmal mehr die Weisheit seines einstigen Schülers, der genau den richtigen Zeitpunkt getroffen hatte, um Dir-agok endlich die ersehnte Liebe zu schenken. Ihm fiel nicht auf, dass Basiliks Gesicht röter war als es hätte sein müssen. Nun, Basilik gehörte auch nicht zu denen, für die er die Verantwortung trug, ganz im Gegensatz zu der jungen Taadrai. Im Geiste ließ er die sechseinhalb Jahre Revue passieren, seit er dieses außergewöhnliche Mädchen nun schon kannte - Mit einem Teil seines Geistes jedoch verblieb Tor-tenak bei seiner Unterhaltung mit Basilik. Diese Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit gleichwertig aufzuteilen, ohne dass jeweils das eine unter seiner Zuwendung zu dem anderen litt, zeichnete ihn seit frühester Jugend aus, und in den Jahrzehnten seines Dienstes für das Reich und für den Schütterer hatte er sie weiter verfeinert. Daher entging ihm auch nicht, dass mittlerweile Dir-agok, liebessatt, rittlings auf Barn-taaks Schoß saß, diesem zugewandt, und ihm fast feierlich in die Augen blickte. Offenbar war sie jetzt bereit, sich dem drängenden Problem der Zeitpest zu stellen. Gerade als Tor-tenak zu diesem Schluss gekommen war, sah er ihn bestätigt, denn Barn-taak, der Agok um die Taille umfasst hielt, schaute zu ihnen herüber, und sein Blick gebot, nun dem Ernst der Lage die volle Aufmerksamkeit zu widmen. So erfuhr also Dir-agok, noch mit dem Stachel der Lust in ihrem Leib, aber vorerst befriedigt genug, um ihren Geist ernsthaften Angelegenheiten zuwenden zu können, von den beunruhigenden Ereignissen der letzten Wochen. Immer wieder war beobachtet worden, wie ganz normale Vorgänge plötzlich unterbrochen wurden, als wäre die Zeit vorübergehend erstarrt: die Wassertropfen des Gerez-syrik zum Beispiel hielten bei ihrem Fall in die Tiefe Schlucht plötzlich inne, wobei nachfließendes Wasser auf das stehengebliebene traf und dadurch in anmutigen Schleiern zerstäubte. Während dies noch Ausrufe der Bewunderung bei den Beobachtern hervorrief, waren andere Vorgänge alles andere als harmlos. Einzelne Menschen wie Tiere erstarrten hin und wieder für kurze Zeit mitten in ihrem Tun, und derartige Aussetzer hatten - begünstigt durch die abschüssigen Bergflanken - schon zu einigen Unfällen geführt. Es gab sogar bereits die ersten Todesfälle. Einer von diesen hatte sich letzte Woche ereignet, als ein Krieger der Stadtwache beim Hantieren mit einem Speer plötzlich erstarrte. Der Speer war seinem Griff entschlüpft und von der Mauerkrone gestürzt, auf der der Krieger gerade patroullierte. Als er 50 Schritt tiefer auf einen Wehrgang fiel, traf der entwischte Speer einen dort stehenden Heerführer und durchbohrte dessen Schädel... Plötzlich erhob sich Agok, nunmehr bar jeder Wonne, ergriff ihren Bogen, spannte ihn, legte einen Pfeil ein, und - es waren noch keine zwei Herzschläge in ihrer Brust verklungen, seit sie sich in Bewegung gesetzt hatte, und das obwohl ihr Herz raste vor Aufregung, und noch immer vom Echo der Lust - schoß ihn ab. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass der Pfeil den Rahmen des großen Spiegels am gegenüberliegenden Ende der Großen Halle genau an seinem Scheitelpunkt getroffen hätte, wenn er nicht - mitten in der Luft zum plötzlichen Stillstand gekommen wäre. Agok eilte hinzu und pflückte den Pfeil aus der Luft, doch spürte sie, wie sie kurz nach der Berührung selbst für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt war. Tief in Gedanken versunken kehrte sie zu den Männern zurück. In einem entfernten Winkel ihres Verstandes registrierte sie, dass sie sich nunmehr wirklich als ebenbürtig empfand und jeden Rest ihrer Scheu vor den "Erwachsenen" abgelegt hatte. Sie war vom Mädchen zur Frau geworden. Es war freilich für eine Taadrai nichts ungewöhnliches, dass so etwas im zarten Alter von zwölf Jahren geschah.
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