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| - Es war wieder eine dieser Nächte, in denen er zu Besuch kam. Diesmal ein Mittwoch. Gegen Mitternacht klopfte er an die Tür meiner Wohnung und erwartete Einlass. Als ich ihm öffnete, begrüßte er mich mit nahezu euphorischer Freude. Ungewöhnlich, eigentlich war er in letzter Zeit immer in sehr deprimierter Stimmung. Unter seinem Arm geklemmt hielt er zwei Flaschen spottbilligen Whiskeys, die unsere einzige Begleitung für diesen Abend darstellten. Wir hielten oft solche treffen ab und nutzten diese, um uns auszutauschen über all die Dinge, die uns auf dem Herzen lagen; nicht weil wir uns besonders sympathisch waren, sondern weil wir außer uns beiden sonst niemanden hatten, den wir als "Freund" bezeichnen konnten. Ich wäre mir nicht einmal sicher ob wir uns gegenseitig so genannt hätten. Wir waren viel eher flüchtige Bekannte, mit einem Hang zum Alkohol und dem Drang, den Abfall, der sich in unseren Köpfen ansammelte auf andere abzuladen, die es zwar nicht interessiert, aber die das selbe Bedürfnis hatten. Unsere Treffen fanden meist bei mir statt. Wir haben uns zwar früher auch in seiner Wohnung getroffen, doch seit einer Weile will er das nicht mehr. Mir war das ohnehin lieber, denn so ersparte ich mir den langen Heimweg, der sich betrunken auf die gefühlt zehnfache Strecke erweiterte. "Wieso so gut drauf?", fragte ich, in Ermangelung einer besseren Begrüßung. "Ich habe dir soviel zu erzählen, aber lass uns doch zuerst für passende Stimmung sorgen!", entgegnete er, was meine Frage zwar nicht beantwortete, aber immerhin andeutete, dass ich die Antwort für diese früher oder später noch erfahren würde. "Für passende Stimmung sorgen" bedeutete in unserer Sprache trinken. Und zwar viel. Auf dem uralten Holztisch, an dem wir für Stimmung sorgten, sammelte sich im Laufe der Abende zunehmend die Asche zahlloser Zigaretten, die wir rauchten, während wir kontinuierlich einen Whisky nach dem anderen unsere Kehlen hinabspülten. Der Plattenspieler im Hintergrund spielte, wie aus Gewohnheit, die selbe Musik wie immer ab. All das trug enorm zur Stimmung bei. Wenn zu Beginn solcher Abende die Gespräche noch recht versteift wirkten, wurden sie mit jedem Schluck persönlicher, bis man in den frühesten Morgenstunden Geheimnisse von sich preisgab, die man in nüchterner Verfassung als entschieden zu-privat eingeschätzt hätte. "Weißt du, ich hatte dir doch schon mal von meiner Ex erzählt. Hab ich doch, oder?", lallte er mir plötzlich entgegen. Zu müde und lustlos ihm zu antworten, wartete ich darauf, bis er seine Rede fortführte. "Jedenfalls, diese Frau, ich hab sie vor kurzem wieder gesehen. Ich hab irgendwie das Gefühl, sie hat sich seit unserer Trennung total verändert. Viel ruhiger und versöhnlicher, gar nicht mehr so streitsüchtig wie früher. Ich könnte mich glatt wieder in sie verlieben, weißt du?" Die sinnlose Frage erneut ignorierend, starrte ich auf den Tisch, der dank Zigarettenasche wie eine Wüstenlandschaft aus einem alten schwarz-weiß Film aussah. Mit viel Fantasie zumindest, oder Alkohol. Er fuhr fort: "Also auf jeden Fall, sind wir wieder verabredet. Sie und ich. Morgen Nachmittag schon. Also, es tut mir leid, dich hier allein lassen zu müssen, aber ich würde gerne meinen Rausch ausschlafen, um bei dem Treffen einen guten Eindruck zu machen." Er verabschiedete sich von mir und beteuerte erneut, wie es ihm Leid tue, dass er gehen müsse. Ihm schien nicht aufgefallen zu sein, dass ich nur aus Gründen der Höflichkeit so tat, als würde ich ihm zuhören. In dem Sinne hätte er sich auch nicht entschuldigen müssen; eher noch wenn er hätte länger bleiben wollen. Tatsächlich hatte er vor einiger Zeit von einer Frau erzählt, mit der er ausgegangen sei. Hauptsächlich hat er von Problemen mit ihr gesprochen. Sie sei zu aufbrausend, zu selbstgerecht und hätte zudem noch alle Aspekte der Beziehung bestimmen wollen. Ich hatte ihm schon damals gesagt, dass sie mir wie der Typ Frau erschien, von dem man sich besser fernhalten sollte, doch ihr Verhältnis hielt beeindruckend lange an. Dass er sie nun wieder treffen wollte, hielt ich für eine Schnapsidee, doch war sie mein Problem nur, wenn er mir von ihr berichtete und das Problem konnte ich lösen, indem ich mehr trank und weg hörte. Folglich hatte ich keine Einwände und selbst wenn, wen hätte meine Meinung interessiert. Wenige Tage später rief er mich erneut an, um sich mit mir zu treffen. Ich hatte keinen guten Grund ihm abzusagen, weshalb ich zustimmte. Ehrlich gesagt hatte ich nicht so früh mit einem erneuten Anruf gerechnet, sonst hätte ich mir wohl eine gute Ausrede einfallen lassen. Wie dem auch sei, bereits am Samstag der selben Woche, stand er zur selben Zeit vor meiner Haustür, mit zwei Flaschen des selben Whiskys, wie es schon am Mittwoch war. Wenn ich mich recht entsinne trug er sie sogar unter dem selben Arm. Auch war seine Euphorie nicht vergangen, sondern schien diese mir im Gegenteil sogar in noch gesteigerter Manier ausgeprägt zu sein. Ich erschloss mir somit, dass das Treffen mit seiner wiederauferblühten Liebe von Erfolg gekrönt war. Nicht dass es mich auf irgendeine Weise erfreut, oder auch nur interessiert hätte, aber diese Information gab mir eine grobe Übersicht darüber, wie die Gespräche dieses Abends verlaufen würden: Nachdem sich der, anfangs recht verhaltene, Meinungsaustausch gelockert hat, wird er gegen schätzungsweise drei Uhr in der Frühe wieder anfangen, von dieser Frau zu schwärmen. Folglich musste ich planen, zu diesem Zeitpunkt bereits soviel getrunken zu haben, dass er es mir nicht übel nehmen konnte, wenn ich ihm nicht zuhörte. Er allerdings vereitelte meine grandiose Planung, indem er das Gespräch unverzüglich auf sein neues Lieblingsthema lenkte und mir somit keine Zeit lies, einen angemessen Alkoholpegel zu erreichen. Vermutlich tat er dies mit Absicht. Somit erzählte er mir, wie er es schaffte, ihr Treffen als Erfolg zu gestalten und wie glücklich er nun sei, dass er wieder mit ihr zusammen war. Furchtbar langweiliges Geschwafel. Ich hielt meine Lippen fast dauerhaft am Whiskyglas und löste sie nur, um mir Neuen einzuschenken. Es gelang mir in Rekordzeit, nicht mehr ansprechbar zu sein. Dass ich es dabei etwas übertrieben hatte fiel mir erst auf, als ich unbestimmte Zeit später aus einem alkoholbedingten Schlaf aufwachte. Wie ich meine Visage aus der erkalteten Zigarettenasche meines Holztisches ausgrub, fiel mir auf, dass mein Gegenüber bereits verschwunden war. Zugegebenermaßen war ich ein wenig enttäuscht, dass er sich nicht um mich gesorgt hatte, als ich in meinem komatösen Zustand vor mich hin vegetierte. Andererseits war ich recht froh endlich meine Ruhe zu haben. Doch als ich, auf der Suche nach meinem Bett, durch die Wohnung wankte, erblickte ich einen weiteren, mir unbekannten, Gast. Eine Frauengestalt stand mit dem Rücken zu mir gekehrt in der Mitte meines Wohnzimmers. Sie schien keine Kleidung zu tragen, doch ihre langen, dunkelbraunen Haare reichten ihr bis über den Po, wodurch der klare Blick auf ihren nackten Körper erst unterhalb der Oberschenkel möglich war. Ob ihre Erscheinung nur ein Produkt meines Rausches war, oder ob sich eine solche Frau tatsächlich in meine Wohnung verirrt hatte, war mir unklar; die Situation war so unwirklich, wie in einem Traum. Ein Albtraum wie sich bald herausstellte, als sie mein Erscheinen bemerkte. Wie angewurzelt stand ich da, als sie sich in meine Richtung drehte. Bereits wie sie dies tat, war so falsch, dass sich ein menschliches Wesen nie derartig hätte bewegen können: Ohne die Beine zu gebrauchen, wendete sie sich, indem sie ihren Oberkörper ruckartig um 180° verrenkte, wobei jeder ihrer Wirbel ein lautes Knirschen von sich gab. Nun hatte ich eine genaue Frontansicht der Kreatur, die mich Heimsuchte. Was von hinten aussah wie eine vitale, junge Frau, entpuppte sich plötzlich als das, was nach dem Tod von ihr übrig blieb. Während mich ihre blanken, seelenlosen Augen musterten, stellte ich fest, dass eine Lücke in ihrer Kopfhaut das Weiß ihres porösen Schädels preisgab. Die Stelle war zertrümmert, rissig und kalkbleich. Das ausgedorrte Haar hing ihr wie Seetang vom Kopf und verhüllte durch seine abstruse Länge große Teile ihres Körpers, wie ein strähniges Leichentuch. Ihre Mimik wechselte augenblicklich von verwundert zu hasserfüllt, als sie realisierte, dass ich den Raum betreten hatte. Vom Schock erstarrt musterte ich den Rest ihres Körpers, beziehungsweise das, was davon übrig war. Ab der Brust bis zu Hüfte war sie fast vollständig skelettiert, nur wenige modrige Fleischfetzen hingen ihr noch am Rückgrat und den freigelegten Rippen. Wie ihre mittig-geborstene Wirbelsäule in der Lage war, den verfaulenden Rumpf zu halten, grenzte an ein Wunder der Statik. Auch ihr Oberkörper war überwiegend verwest und die Knochen des Brustkorbs weitgehend zertrümmert, wodurch manche Rippen wie unbeholfene Stummel und andere wie bedrohlich-hervorblitzende Dolche erschienen. Ihr Brustbein lag zur Hälfte frei; die andere Hälfte wurde von einigen lose schwingenden Gewebefetzen, wie durch einen halbtransparenten Schleier, bedeckt. Alle darunterliegenden Organe erlagen dem Verfall bereits dermaßen, dass man ihren ursprünglichen Habitus nur noch mutmaßen konnte. Sämtliche Blutgefäße, Herz und die Lunge - alles bis zur Unkenntlichkeit verfault. Ihr Unterkörper war im Vergleich dazu hervorragend erhalten. Von der Hüfte bis zu den Füßen waren wenige Leichenflecken das einzige Todesmerkmal, dass ein Laie der Anatomie, wie ich, ausmachen konnte. Irgendetwas an mir schien sie in den Wahnsinn zu treiben. Von Agonie getrieben riss sie den Mund auf, um ein schrilles Kreischen auszustoßen. Die Luft, die sie dabei mühevoll durch ihre löchrige Luftröhre presste, verließ als stiller Schrei ihren Rachen, da ihre verfallenen Stimmbänder nicht in der Lage waren, ein definierbares Geräusch zu erzeugen. Wie im Kampf mit der eigenen Anatomie versuchte sie nun, ihren Mund weiter aufzureißen und sich einen Ton zu entlocken. Ihr schien die Zwecklosigkeit dieses Unterfangens nicht aufzufallen. Letztlich spannte sie ihren Mund so weit auf, dass sich Ober-und Unterkiefer mit einem lauten Krachen entzweiten und im 90°-Winkel voneinander abstanden. Ob diese Kreatur zur Schmerzempfindung fähig war, hielt ich für unwahrscheinlich, schließlich war ihr komplettes Nervensystem verwest, doch die Tatsache, dass sie sich trotzdem bewegen konnte ließ darauf schließen, dass man hier nicht mit Humanbiologie argumentieren konnte. Mit einem furchtbaren Knacken brach ihre Wirbelsäule in der Mitte durch, wie ein alter Turm, der durch seine fehlerhafte Bauweise nicht mehr in der Lage war, das Eigengewicht zu stemmen und kollabierte. Nun lag ihr Oberkörper von den Beinen getrennt auf dem Boden. Diese standen weiterhin, wie schlanke Säulen, im Zentrum meines Wohnzimmers, als hätten sie nicht mitbekommen, dass der ihnen zugehörige Torso soeben von ihnen getrennt wurde. Der Oberkörper lag nun regungslos auf dem Laminatboden. Die letzten Zuckungen gaben die pupillenlosen Augen von sich, bis auch diese in ihren tiefen Sockeln zur Regungslosigkeit erstarrten. Mir schien, als hätten die Überreste dieser Frau endlich Ruhe gefunden. Instinktiv drängte ich, meine Wohnung verlassen. Ich wünschte mir den größtmöglichen Abstand zu meiner Wohnung, in der ich mich, nach dem was passiert war, wohl nie wieder heimisch fühlen könnte. Es gibt Ereignisse, die ein normaler, empathischer Mensch unmöglich vergessen kann und dieses schien mir wie ein solches. Ich begab mich zur Haustür, um meine einstige Bleibe ein für alle Male zu verlassen. Die Zeit, mir einen Koffer zu packen nahm ich mir nicht. Ich war schließlich nicht auf Reisen, sondern auf der Flucht. Ich steckte den Wohnungsschlüssel in das Schlüsselloch, als ich ein beunruhigendes Schlurfen hinter mir vernahm, das sekündlich lauter wurde. Wie eine Ledertasche, die man über Laminatboden zieht. Noch bevor ich mich umdrehen und die Situation realisieren konnte, fühlte ich, wie sich nadelspitze Fingernägel mein Bein aufwärts hangelten. Mit aller Kraft versuchte ich den untoten Oberkörper der Kreatur von meinem Torso loszureißen, doch vergeblich. Je mehr ich ihr im Überlebenskampf Schaden zufügte, desto fester und willensstärker klammerte sie sich an mir fest. Wie ich versuchte, ihren Arm zu greifen, entglitt mir dieser aus der Hand, als sich mühelos das verfaulte Fleisch von den Knochen löste. Meine Versuche, mich zur Wehr zu setzen, blieben ungeachtet, als sie sich unaufhaltsam in Richtung meines Kopfes vorarbeitete. Ich schloss mit dem Leben ab, als sie, die Klauen in meinen Schultern versenkt, auf Höhe meines Gesichtes war und mir direkt in die Augen starrte. Ihr aufgebrochener Kiefer gab den Blick auf ihr schwarzes Zahnfleisch und das dazugehörige Gebiss frei, während ein infernalischer Gestank aus dem Rachen der Kreatur strömte und meine Sinne betäubte. Mit einem plötzlichen Ruck schlug sie ihre nadelspitzen Zähne in mein Gesicht und versuchte, meinen Kopf im Ganzen zu verschlingen.
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